Wolf mit Knopfschuss erlegt
Wölfe wurden früher gefürchtet, gehasst und gejagt. Auch in Schortens. Einen „Wolfsgalgen“ gibt es hier noch heute. Und einen Experten, der sich mit dem Isegrim auskennt wie kaum ein anderer.
Die Nacht ist kalt, der Wind weht scharf, schwarze Wolken jagen sich am Himmel. Anthon Richter kauert auf der mit Stroh abgedeckten Bank, schläft ein, schnarcht. Plötzlich werden die Schafe im Stall unruhig, blöken. Ein Wolf heult laut auf, erst fern, dann sich langsam nähernd. Anthon schreckt hoch, greift nach der Flinte seines Vaters, tastet sich durch die Dunkelheit. Als er die Stalltür öffnet, sieht er den Isegrim, bedrohlich nah. „Oh Gott, wo sind meine Kugeln?“ Anthon reißt sich einen silbernen Knopf von der Jacke, lädt das Gewehr, schießt. Der Wolf fällt um. Er ist tot.
So oder so ähnlich könnte es passiert sein in der Nacht vom 20. auf den 21. November 1738 in Oestringfelde. Der silberne Knopf ist Sage. Der Rest ein wichtiger Bestandteil der Geschichte der Stadt Schortens im Landkreis Friesland. Der erlegte Wolf soll damals der letzte seiner Art im Oldenburger Land gewesen sein. Anthon Richter und sein Vater hängten das tote Tier an einen in der Nähe stehenden Eichenbaum.
Einen „Wolfsgalgen“ gibt es in Schortens noch heute. Der steht allerdings nicht mehr in der Heide, sondern an einer belebten Straßenkreuzung. Der Ort ist drum herum gewachsen. Im Heimatmuseum in Jever hängt ein Gemälde des Tieres. Über den Wolf wurde gedichtet („Der letzte Galgen“), geschrieben („Aberglaube und Sagen“), gewitzelt. In den Nachbarorten hieß es damals, Anthon Richter habe einen wildernden Hund erlegt, keinen Wolf. Fortan nannte man die Schortenser hämisch „de Hunnenhangers“.
Der Galgen, die Geschichte vom letzten Isegrim, all das bekommt fast 280 Jahre später eine neue Bedeutung. Der Wolf ist in die Region zurückgekehrt. Er wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder im Kreis Friesland und in Schortens auftauchen.
„Ich fände es nicht so gut, wenn sich der Wolf hier ansiedelt“, meint Georg Schwitters. „Nicht umsonst hat man Wölfe damals als Feinde von Schafen und Kühen angesehen.“ Schwitters, langjähriger Vorsitzender des Heimatvereins Schortens, kennt die Geschichte vom letzten Wolf wie kaum ein anderer. Der 72-Jährige, früher Lehrer, hat ein Historienspiel über die Ereignisse der Novembernacht 1738 geschrieben, aufgeführt bei der Einweihung des sechsten Wolfsgalgens 1998.
Wolfsgalgen, Wolfssteine, Wolfssäulen, Wolfsdenkmäler, Wolfsgruben – in vielen deutschen Regionen wurden tatsächliche oder angebliche Ereignisse mit Wölfen für die Nachwelt verewigt. Im Osten, in Hessen, in Niedersachsen.
Lüneburger Heide, Winter 1526. Zwei hungrige Wölfe greifen die junge Ilse von Idingen an. Der Ritter Wilhelm von Cram erschlägt beide, so die Legende, mit seinem Schwert und rettet der jungen Frau das Leben. Ein Schild am Ende der Wolfsschlucht bei Dorfmark erinnert daran.
Bei Walsrode, September 1843, ein Wolf macht die Gegend seit Monaten unsicher, reißt überall Schafe. Bei einer Treibjagd wir das Tier erlegt. Ungewöhnlich groß sei der Wolf gewesen, heißt es: die Vorderpfoten 5 Zoll breit, von der Nase bis zur Schwanzspitze 5 Fuß lang. Ein verwitterter Wolfsstein erzählt davon.
Winter 1872, bei Ostenholz sieht der Förster Grünewald die Fährte eines Wolfes im Neuschnee, findet einen alten Rüden. Der Wolfsstein trägt die Inschrift: „Am 13. Januar 1872 wurde hier der letzte Wolf in Niedersachsen erlegt.“
Georg Schwitters betrachtet den Wolfsgalgen von Oestringfelde, schmaucht genüsslich seine Pfeife. Eiche, geschält, imprägniert, fest im Boden verankert. Davor eine Bronzetafel. Als Erinnerung an den 20. November 1738. Aufgestellt 1931, von den „Freunden des Altertums der Gemeinde Schortens“, damit die Geschichte vom letzten Wolf nicht vergessen geht. Gefeiert mit einem großen Fest im Gasthaus „Grüner Wald“.
Dort drüben, Schwitters zeigt auf die andere Seite der Kreuzung von Ginsterweg und Klosterweg, dort hat der Eichenbaum gestanden, an dem der Wolf hing – und nachdem dieser gefällt war, die aufgestellten Stämme mit dem galgenartigen Ast. Bis 1909 zunächst, als die morsche Eiche nicht ersetzt wird.
Und da hinten, jetzt zeigt Schwitters Richtung Klosterruine, da hinten, wo jetzt ein gelbes Haus steht, soll der Schafstall von Anthon Richter gewesen sein. Der Tatort.
Ein Auto hält an der Kreuzung, Fenster runter, fröhliches Gesicht. „Mein Vorgänger hat einen aufgehängt, dann werde ich das wohl auch schaffen“, lacht der Mann am Steuer. Carsten-Friedrich Streufert, Revierleiter der Revierförsterei Upjever, kommt wie bestellt vorbei. Die beiden Männer schnacken ein paar Minuten über die Rückkehr der Wölfe. „Ich suche schon mal einen Baum aus“, verabschiedet sich Streufert.
Georg Schwitters besitzt eine Zeichnung, von einem seiner Vorgänger im Heimatverein angefertigt. Sie zeigt das Auftreten und Erlegen der Wölfe in Friesland und Ostfriesland im 18. Jahrhundert. Im Kreis Wittmund sollen damals viele gehaust haben, eine „Landplage“.
Moment mal: Jever 1766 steht da. Passt nicht zur Geschichte vom letzten Wolf. Ein alter Aufsatz des früheren Heimatvereins-Vorsitzenden Karl Bock, gespickt mit historischen Zitaten, klärt auf. Von einer „fruchtlos verlaufenen Wolfsjagd“ ist da die Rede. „Die Leute haben keine Ordnung gehalten.“ Und geregnet hat es auch den ganzen Tag.
Aus dem Aufsatz geht hervor, dass in Hude (Kreis Oldenburg) im Jahr 1740 angeblich ein allerletzter Wolf erlegt worden sein soll. In Spohle (Kreis Ammerland) 1767 noch ein allerallerletzter.
Auch 1977 taucht ein Wolf in der Region auf, der hier gewiss nicht hingehört, mit tragischem Ende für einen siebenjährigen Jungen. Ein Tierhalter aus Goldenstedt (Kreis Vechta) will zwei junge Pyrenäen-Wölfe nach Osterholz bringen. In Höhe der Varreler Bäke in Delmenhorst entkommt ein Tier und beißt in einem Wald das spielende Kind tot. Der Wolf wird noch am gleichen Tag erschossen.
Wie die Geschichte von Anthon Richter, Sohn des fürstlich-anhaltinischen Wildjägers Hermann Anthon Richter, ausgeht? Ja, der erhält vom Fürsten einen fürstlichen Lohn. Muss allerdings eineinhalb Jahre darauf warten. Johann August, Fürst von Anhalt-Zerbst, zugleich Oberlanddrost zu Jever, verfügt 1740, dass an den Wolfsjäger vier Reichstaler auszuzahlen seien. Natürlich gegen Quittung und behördlich ordentlich verbucht, wie es in dem Brief lautet, der sich heute im Staatsarchiv Oldenburg befindet. Eine Belohnung, die durchaus dagegen spricht, dass an der Eiche in Oestringfelde ein Hund baumelte.
Die Schortenser ficht der Spott ohnehin nicht an. Für Schwitters und den Heimatverein spielt es auch keine Rolle, ob es der letzte, vorletzte oder vorvorletzte Wolf war. Die Geschichte ist geschrieben und die Tradition lebt.
Mit dem nächsten Wolf werden die Schortenser aber möglicherweise auskommen müssen. Erlegen und aufhängen ist inzwischen verboten.
Wichtiges Tier in der Mythologie vieler Kulturen
In der Mythologie spielt der Wolf eine große Rolle. Nicht nur in den Märchen der Brüder Grimm wie „Rotkäppchen“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“, wo er als wild, reißend, bissig, grimmig und blutgierig bezeichnet wird.
Die Inder gaben den Dämonen Wolfsnamen. In der skandinavischen Edda ist der Wolf ein Symbol für dämonische Mächte. Das Christentum setzt den Wolf mit dem Teufel gleich. Im Mittelalter grassierte die Furcht vor Werwölfen. Auch zahlreiche Natursagen aus Osteuropa berichten über die Erschaffung des Wolfs durch den Teufel.
Verschiedene Kulturen haben den Wolf indes verehrt: Für die Ägypter stellte er einen Gott dar, für die Mongolen ihren Ahnherrn. Verehrt wird der Wolf auch als Ernährer von Menschenkindern: bei Romulus und Remus, den Stadtgründern von Rom, bei Mowgli im „Dschungelbuch“. Er findet sich in Namen wie Wolfgang, Wolfdietrich, Wolfram oder Wolfhart wieder.
Quelle: NWZ Online vom 27.03.2015