Mine Scherf

Ein Beitrag zur Lebensgeschichte
Mine wollte keine Biographie über sich schreiben und hat es auch nicht getan. Sie war bescheiden und wollte nie herausragen. Deshalb sind wir bei einem Bericht über sie auf ihren schriftlichen Nachlass und unsere Erinnerungen angewiesen. Einige der Geschichten in Mines Büchern geben uns einen Einblick in ihr Leben, in unsere Zeitgeschichte und ihre Lebenssituation. Ein Beispiel: „Tweemal Inkoopen; voer 60 Johr un vandag“(Dat löppt sick allns torecht, Seite 21). Sie beschreibt darin das Einkaufen früher und heute, lässt aber dem Leser eine Beurteilung offen. Andere Informationen kommen von Familienmitgliedern. Besonders von den Enkelkindern und ihrer einzigen noch lebende jüngsten Schwester Gerda. Gerda lebt in Sande und ist in einer Malgruppe in Cäciliengroden aktiv. Sie alle erzählten lebhaft ihre Erinnerungen. Immer wieder hörten wir: „Sie war unsere zweite Mama“. Mine (oft Minchen genannt) wurde 1919 als zweites von sieben Kindern (Johann, Mine, Hinni, Marie, Heike, Hanne und Gerda) in Blomberg (Ostfriesland) geboren. Marie starb als Kleinkind und Hinni ist im 2. Weltkrieg in Russland gefallen. Ihre Eltern, Johannes Janßen und Marie Janßen, geborene lken, waren Moorkolonisten. Alle Arbeiten mussten per Hand verrichtet werden. Der Brunnen und das Haus wurden gebaut. Dabei war es wichtig, dass der Misthaufen und die Toilette (das „Plumpsklo”) weit vom Brunnen entfernt waren. Der Brunnen (die Pütt) wurde mit Regenwasser gespeichert. Der Boden musste für den Anbau von Gemüse und Getreide besonders vorbereitet werden. Zum Beispiel war das erste Getreide immer Buchweizen. lm Elternhaus wurde nur Platt gesprochen. Minchen besuchte die einklassige Volksschule in Neuschoo. Herr Oelenschläger‚ ihr Lehrer, übergab Minchen oft die Aufgabe, den kleineren Kindern bei ihren Aufgaben zu helfen. Nach achtjähriger Schulzeit musste Minchen „zum Bauern in Stellung“. In der Geschichte „Telefoneern“ (Dat löppt sick allns torecht, Seite 7) schildert sie eine Begebenheit aus der Zeit.
Mines Mutter, Marie, erkrankte. Dies und die schwere Arbeit als Moorkolonist überforderten auch den Vater. Er hatte als Folge vom Einsatz im 1. Weltkrieg erhebliche gesundheitliche Leiden (Kriegstrauma). Die Marinewerft in Wilhelmshaven suchte Arbeitskräfte. Für ihn waren die Arbeitsbedingungen dort leichter und so zog die Familie 1937 von Ostfriesland nach Heidmühle.
Minchen musste als älteste Tochter den Haushalt für den Vater führen, ihre Mutter pflegen und ihre 5 Geschwister versorgen. Wie schwer dies nach dem Tode ihrer Mutter (gestorben 1939) in den Kriegsjahren war, liest man zwischen den Zeilen in der Weihnachtsgeschichte, „Een Breef vant Wiehnachtsmann“ (Wiehnachtstied, Seite 33).
1940 heiratete Mine Max Scherf. Wie bei vielen Paaren in den Kriegsjahren war ihr Mann im Krieg und nicht zu Hause. Sie führte weiterhin den „Großhaushalt“, der sich um zwei eigene Kinder (Herta, geboren 1941) und Ingo (geboren 1943) erweiterte.
Johannes, ihr Vater, heiratete 1943 die Haushälterin Anni Herkens. Im Haus wurden oben eine Küche und ein Schlafzimmer für Mine und ihre Kinder ausgebaut. Alle anderen Bereiche wurden zusammen benutzt. Mine musste weiterhin sehr viele schwere Arbeiten im Haus und im Garten übernehmen. Hinzu kamen extra Arbeiten wie Rüben- und Kartoffelernte beim Bauern, um die Familie zu ernähren. Dazu kam die Nachlese der Getreidefelder. Auf dem Hof wurde das Korn mit dem Dreschflegel von Opa ausgedroschen, gemahlen und zu Mehl verarbeitet.
Eine noch schwerere Arbeit waren vier Wochen Torfstechen im Moor. Dafür gab es Torf für den Ofen zum Kochen und Heizen. Leider wurde kein schwarzer sondern zum größten Teil nur leichter, heller Torf geliefert, dessen Brennwert geringer ist.
Max kam Mitte 1949 aus russischer Gefangenschaft zurück. Der Ehemann war wieder im Haus und damit begann ein neuer Lebensabschnitt.
Im nächsten Jahr (1950) wurde die jüngste Tochter Annetraud geboren. Ein Jahr später bekam Max einen Arbeitsplatz bei den Olympia Werken. Langsam mit harter Arbeit ging es wie in ganz Westdeutschland bergauf. Die Hungerjahre waren vorbei.
Mine und Max bauten ein neues Haus auf dem gleichen Grundstück. Die Kinder gingen ins Berufsleben und später aus dem Haus.
Oma, Anni Janßen, starb 1960 plötzlich an einem Schlaganfall. Opa Scherf, der Vater von Max, starb 1968 und Opa Janßen 1973. Beide Großväter wurden von Minchen bis zu deren Tod gepflegt.
Und wieder fing ein neuer Lebensabschnitt an. Für Mine und ihre Geschwister, die inzwischen alle verheiratet waren und eigene Familien hatten, war der Zusammenhalt der Familie weiterhin sehr wichtig. Geburtstage, Weihnachten und Pfingsten traf man sich und zwischendurch erfand man immer Gründe für gemeinsame Ausflüge und Feste. Willi, Hannes Mann, machte Musik. Heike hatte immer etwas Besonderes, Spaßiges zu bieten und Minchen trug etwas vor. Ein Beispiel können wir in dem Gedicht: „Dat geiht na Munderloh“ (As Unkel Willem noch uns lütt Willi weer, Seite 44) nachlesen. Die nachfolgenden Generationen erhielten dies weiter aufrecht.
Mine gehörte schon immer als aktives Mitglied zur Kirchengemeinde Schortens. Sie war im evangelischen Frauenkreis ein reges Mitglied. Durch den Frauenkreis nahm sie Kontakt mit einer Familie in Ostdeutschland auf (M. Patenfelder). Ostdeutsche Rentner durften zu der Zeit schon in den Westen reisen.
In Schortens an der Plaggestraße fand man alte Gräber. Max und Minchen gaben in weiterem Sinne Unterstützung zur Aufklärung. Sie waren auch sehr an unserer lokalen Kulturgeschichte interessiert. Beide engagierten sich als Mitglieder im Heimatverein.
Durch die Heirat der Kinder erweiterte sich die Familie um deren Partner und um die vier Enkelkinder Sontka, Anke, Heiko und Dirka. Mine war Oma und stellvertretende Mutter für alle vier. Zu Oma konnte man immer gehen. Sie war eine Ausweichstelle, wenn zu Hause nicht alles so lief wie man es sich vorstellte oder wenn es in der Schule zu langweilig war. Bei Bauchschmerzen durfte man ja nach Hause gehen und bei Oma war es immer viel interessanter.
Die Enkel erinnern sich heute lebhaft, wie es bei Oma war: „Oma hat uns immer oft viele spannende Geschichten erzählt!“ „Wir durften richtige Scheren und Messer benutzen und ‚mitarbeiten'“. Wir hatten unseren eigenen „Acker“, in der Größe von etwa 60 x 60 cm – aber der eigene Garten! Omas Kürbis- und Kartoffelernten sind noch nicht vergessen. Bei dem Kürbis ging es um das größte Exemplar; bei den Kartoffeln zählte, wer die meisten, kleinsten sammelte. Dann wurde aus den „besonderen Pellkartoffeln“ ein Festessen für die „Arbeiter“ zubereitet. Oma backte auch mit uns Brötchen und Kekse, sie hatte eine richtige “Keksfabrik“. Oma brauchte viele Kekse, denn nachmittags gab es immer Tee und dazu gehörten Kekse. „Besuch war auch immer herzlich Willkommen und dann gab es natürlich „Tee“ mit Keksen. Donnerstag, der Markttag, war „Haus der offenen Tür“. Der Teepott stand bereit.
Oma fertigte auch Puppen für ihre Enkelkinder an. Dazu gibt es die nette Weihnachtsgeschichte „De Wiehnachtspupp“ (Wiehnachtstied, Seite 21). Seit die Familie in Heidmühle wohnte, wurde im Haus mit den Kindern Hochdeutsch gesprochen. Der Grund dafür war, Mine wollte nicht, dass ihre Kinder wie ihre jüngeren Geschwister in der Schule gehänselt wurden. In Ostfriesland sprachen die Kinder im Haus Platt; Hochdeutsch wurde erst in der Schule gelernt. Die Jeverländer galten als „feine Leute“ – etwas hochnäsig – und „Platt“ war für sie verpönt.
Mit den Enkelkindern war das jetzt anders. Die Zeiten hatten sich geändert. Platt wurde wieder mehr geachtet. „Mensch du kannst Platt sprechen“, hörte man. Dirka, ihr jüngstes Enkelkind, kam oft zu Oma, um Platt zu lernen. Sie übten einen längeren Sketch von Mine als „Oma und Enkel im Zug” ein. Die beiden haben das Stück dann zusammen in Horum aufgeführt. Dirka hat später bei der Plattdeutschen Bühne mitgespielt (Aufführung im Bürgerhaus).
Für Mine war die plattdeutsche Sprache immer wichtig. Plattdeutsch war die Sprache, in der sie sich am bestem ausdrücken konnte. Sie träumte sicherlich so und wenn es um Emotionales ging, dachte sie wohl auch in Platt. Im Rahmen ihrer Familie war Minchens Kreativität schon immer gefragt. Karten und Schilder malen, Gedichte und Geschichten zu besonderen Anlässen schreiben und vorlesen, zum Beispiel ”Ik bün Rentner, ik hebb Tiet“ (As Unkel Willem noch uns lütt Willi weer, Seite 41) und „Uns Vader“ (As Unkel Willem noch uns lütt Willi weer, Seite 54).
Erst Mitte der siebziger Jahren nach dem Tode des Vaters, konnte sie ihre Fähigkeiten als Hobby umsetzen. Mehr in die Öffentlichkeit kam sie durch ihre Aktivitäten im Heimatverein. Mit ihrem Gedicht: „Güstkinnelbeer“ (As Unkel Willem noch uns lütt Willi weer, Seite 51) beim gleichnamigem Fest fing es wohl an. Viele Veranstaltungen hat sie mit ihren lebendigen, humorigen Vorträgen bereichert. Sie wurde ermuntert ihre Geschichten aufzuschreiben. Und so entstanden über die Jahre vier Bücher, die dem Heimatverein vorliegen, aus ihren Manuskripten. Alle Texte wurden dafür von Schwiegertochter Annemarie und Tochter Annetraud mit der Maschine geschrieben und dann im Verlag C. L. Mettcker & Söhne (Jever) veröffentlicht:

1. Mine Scherf, „As Unkel Willem noch uns lütt Willi weer”, 1981
2. Mine Scherf, „Weetst du noch?”, 1985
3. Mine Scherf, „Wiehnachtstied”, 1989
4. Mine Scherf, „Dat löppt sick allns torecht”, 1990

Mine veröffentlichte Geschichten und Gedichte auch in lokalen Tageszeitungen und in Historienkalendern beim Brune-Mettcker Verlag, Jever („Konfirmation“, Historienkalender auf das Jahr 1994, Seite 70; „De hebbt min Swin slacht”, Historienkalender auf das Jahr 1995, Seite 76). Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit hat Mine viele Bilder (der Heimatverein hat — soweit nachweisbar — Bilder von ihr katalogisiert) gemalt, die meisten in Öl. Heimatliche Motive waren ihr Thema. Max freute sich über Minchens Aktivität. Er begleitete und unterstützte sie bei ihren künstlerischen Tätigkeiten. Zusammenfassend können wir sagen, Mine hatte ein erfülltes, aber kein leichtes Leben. Sie wurde durch den Tod ihrer Mutter früh in die Pflicht gerufen. Einen fundamentalen Stellenwert nahm die Versorgung der „Familie“ ein. Sie war Mutter für alle. Viele Freunde fühlten sich bei ihr zu Hause. Sie wollte mit ihren Geschichten und Bildern Menschen erfreuen. Ihre Geschichten geben der plattdeutschen Sprache einen Stellenwert in unserer Zeit. Sie tragen hoffentlich zur Beibehaltung unserer Muttersprache bei. Historisch geben viele Geschichten einen Einblick in das soziale Leben von Menschen auf dem Lande im 20. Jahrhundert in Ostfriesland und Friesland.

Schortens, den 29.05.2018

Herta Watts geb. Scherf
Ingo Scherf
Annetraud Josupeit geb. Scherf