Die letzten Glöckner von Schortens

Autor: Oliver Braun, Quelle, abgerufen am 10.10.2017

Das Glockenläuten von Hand folgt einem festen Ritual. In der St.-Stephanus-Kirche pflegen fünf Männer diesen Brauch.

Mit geschlossenen Augen und Gehörschutz steht Johannes Peters vor der großen Nordglocke oben im zugigen Turm der Kirche St. Stephanus in Schortens. (Kreis Friesland). Geradezu andächtig zieht und schlägt er in einem festen Rhythmus den 85 Kilogramm schweren Klöppel an das Metall. Und es scheint, als würden sich die Schwingungen der tonnenschweren Glocke direkt auf ihn übertragen.

Das Glockengeläut der Kirche hat wahrlich etwas Meditatives. Majestätisches. Und Himmlisches. Ganz besonders in der Heiligen Nacht, wenn das Geläut mit reiner Muskelkraft erklingt. Und an diesem Ort, wo man dem Himmel ein kleines Stückchen näher ist.

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Heiliger Bim Bam: Johannes Peters schlägt die große Südglocke von St. Stephanus mit Muskelkraft an. Der Klöppel wiegt 85 Kilogramm.

Bild: Oliver Braun

30 Meter hoher Turm

Jedes Jahr an Heiligabend und zu Silvester steigen zusammen mit Johannes Peters auch dessen Sohn Hilko sowie Manfred Onken, Hermann Reck und Horst Janßen den fast 30 Meter hohen Glockenturm der St.-Stephanus-Kirche hinauf und schlagen die drei tonnenschweren Glocken bis zu einer Stunde lang per Hand an. Beiern heißt diese fast vergessene Tradition, die nur noch in ganz wenigen Orten Deutschlands praktiziert wird und die einst vor allem den Bauern draußen auf dem Feld signalisieren sollte, dass die Weihnachtszeit nun da ist.

Die Glöckner von Schortens sind fast alle jenseits der 60 Jahre. „Ich mache das in fünfter Generation und habe es von meinem Vater übernommen“, sagt Johannes Peters. Der 66-jährige Maschinenbauingenieur wohnt gleich neben der Kirche. Das vor mehr als 860 Jahren hochwassersicher auf einem eiszeitlichen Geestrücken gebaute Backsteingebäude ist der Treffpunkt der Beierer.

In der Turmspitze hängen zwei große Glocken, eine aus Bronze und eine aus Eisen, sowie eine kleine Bronzeglocke. Um den Glocken Töne zu entlocken, wird ein Holzgriff per Karabinerhaken an den Klöppeln eingehängt. Dann beginnt körperliche Schwerstarbeit: Peters und die anderen Ehren-Glöckner ziehen an den Holzgriffen und schlagen die schweren Klöppel damit gegen die Glocken. Das Geläut folgt keiner Melodie, aber einem Rhythmus. „Wir fangen mit leichten Schlägen an, die immer kräftiger werden“, sagt Peters. Wichtig ist, dass sich die drei Glocken klanglich nicht in die Quere kommen. „Eine laut, eine mittellaut, eine leise“, ergänzt Reck.

Der Ritus beginnt mit der kleinsten Glocke auf der Westseite. Durch zunächst leichtes und nachfolgend stärkeres Anschlagen an den Glockenrand entlockt Horst Janßen der Glocke, die dabei unbewegt bleibt, einen ganz besonderen Klang. Nach kurzer Zeit setzt der nächste Mann mit der mittleren Glocke auf der Nordseite an. Schließlich wird das Geläut mit der großen Glocke auf der Südseite vervollständigt. Dort müssen zwei Männer zufassen, denn der Klöppel der größten Glocke hat allein ein Gewicht von rund zwei Zentnern.

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Hermann Reck befestigt den Zughaken am Klöppel der Nordglocke.

Bild: Oliver Braun

Lebenslange Berufung

Das Spektakel dauert eine Stunde. Alle zehn Minuten wechseln sich Beiern und elektronisches Glockengeläut ab, damit die Männer sich nicht überanstrengen. „Trotzdem merkt man hinterher Muskeln, von denen man nicht wusste, dass man sie hat“, sagt Horst Janßen. „Das geht auf Sehnen und Handgelenke.“ Erzeugt wird eine an der Schmerzschwelle liegende Lautstärke von 120 Dezibel. Ein ohrenbetäubender Pegel. Daher tragen die Beierer immer einen Hörschutz.

„Zum Beierer wird man berufen“, sagt Johannes Peters. „Zu den Beierleuten gehört man dann den Rest seines Lebens – oder zumindest so lange, wie man gesundheitlich dazu in der Lage ist“, sagt Horst Janßen.

An die große Glocke hängen die Männer ihr geschichtsträchtiges Tun nicht. Mit der Kirche haben sie ansonsten relativ wenig zu tun: „Wir wollen nur die Tradition am Leben erhalten.“

In früheren Jahrhunderten haben Jugendliche das Beiern übernommen, die dafür im Dorf Essen und Trinken bekamen. Doch mit dem Beiern wurde auch viel Unfug betrieben, und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Und so beschloss der Schortenser Kirchenrat 1862, diesen Brauch nur mit Kirchenmitarbeitern fortzusetzen.

Seit mehr als 150 Jahren lässt sich diese Tradition in Schortens belegen. Sie ist vermutlich noch viel älter. Dabei ist der Aufenthalt im Turm bei Temperaturen, die in manchen Jahren unter der Gefriergrenze liegen, nicht immer angenehm.

Nach einer Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg hatte der mittlerweile verstorbene Kirchenälteste Hans-Wilhelm Grahlmann das Beiern 1947 in Schortens neu belebt.

Gebeiert wird Heiligabend und Silvester jeweils von 17 bis 18 Uhr.

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Bild: Oliver Braun

Quelle: JeWo Online

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